Grauzonen - Rechte jugendliche Lebenswelten

Grössen- und Verfolgungswahn:
»Gehasst, Verdammt, Vergöttert!«

Das Phänomen von Größen- und Verfolgungswahn wird in der Psychologie als Wahnzustand beschrieben, nach dem das Individuum glaubt, permanent von verschiedenen Seiten verfolgt zu werden. Dieser Verfolgungswahn setzt voraus, dass das Individuum glaubt, selbst sehr wichtig zu sein. Die Anwendung der Begriffe Größenwahn und Verfolgungswahn auf unser Untersuchungsfeld kann nur im übertragenen Sinn stattfinden, da sie die Gefahr bergen, Einstellungsmuster zu pathologisieren. In der extremen Rechten ist die Kombination von Größen- und Verfolgungswahn konstitutiv. Die Protagonist*innen leben im Gefühl absoluter Überlegenheit, das ihren Ausdruck oft in Allmachtsfantasien findet. Größen- und Verfolgungswahnbilden die Grundlage für nationalistisches Großmachtstreben und antisemitische Verschwörungstheorien. Der Politikwissenschaftler Kurt Lenkbeschreibt Größen- und Verfolgungswahn als ein quasi übergeordnetes psychologisches Element extremrechten Denkens. Lenk verweist darauf, dass auch Rassismus und die »Beschwörung der Volksgemeinschaft«auf Grundlage eines Größenwahns stattfinden, und dass Verfolgungswahn unter anderem»Feindbilder, Untergangsbefürchtungen, Anti-Intellektualismus und Angst vor multikultureller Unterwanderung« erzeugt.

Der »Ring von Feinden« um das Volk und die eigene Person ist in der extremen Rechten ein feststehendes Motiv. Indem sich selbst die Fähigkeit angedichtet wird, die»Wahrheit« zu erkennen, wird die eigene Gruppe als elitärer Kreis von Wissenden konstruiert. Je zahlreicher, mystischer und mächtiger die Feinde imaginiert werden, desto heldenhafter erscheint der eigene»Kampf« gegen diese. So bilden Größenwahn, Verfolgungswahn und Verschwörungstheorien ein dynamisches, geschlossenes System, in dem das eine nicht ohne das andere funktioniert.

Grössenwahn und Verfolgungswahn in rechten Lebenswelten

Die Kombination Größen- und Verfolgungswahn ist ein Leitprinzip, dass sich in allen hieraufgeführten Bezugspunkten rechter Lebenswelten widerspiegelt. Dort populäre Parolen wie »Dein Neid ist meine Anerkennung« weisen auf ein stark reduziertes Identitätsmodell hin. Die Selbstdefinition geschieht im Wesentlichen über Feindbestimmung und Außenwahrnehmung, beziehungsweise darüber, wie behauptet wird, von außen wahrgenommen zu werden. In der Herausbildung subkultureller und adoleszenter Identitäten verbinden sich häufig Selbsterhöhung und Opferstilisierung.

Viele Gruppen und Szenen –ob Punks, Rocker, Fußball-Ultras oder Jugendgangs – sind um Distinktion bemüht, möchten etwas Besonderes darstellen. Das Gefühl, die »ganze Welt« stände gegen eine*n, schweißt zusammen und betont die Abgrenzung. Dies darf nicht pauschal als rechts beleumdet werden. Eine Selbsterhöhung im Sinne von Selbstbehauptung funktioniert von unten nach oben und ist assoziiert mit dem Begriff der Würde und dem berechtigten Anliegen, für sich Anerkennung und Gleichberechtigung einzufordern. Die Selbsterhöhung als Selbstüberhöhung hingegen funktioniert von oben nach unten und ist eng verbunden mit dem Begriff der Ehre. Sie dient häufig der Betonung eigener Machtansprüche und der Hierarchisierung sozialer Strukturen. Problematisch wird es, wenn sich Selbsterhöhung und Opferstilisierung in Größenwahn und Verfolgungswahn übersteigern und verabsolutieren.

Die Anschlussfähigkeit an, beziehungsweise die Einbettung in rechte Ideologien geschieht darüber hinaus, wenn sich nachfolgend aufgeführte Elemente herausbilden und zusammenwirken. Wenn Selbsterhöhung und Opferstilisierung:

  • sich zu einem Lebenskonzept verfestigen und auch dann identitätsbildend sind, wenn die Kontrolle über das eigene Leben längst erreicht ist,
  • sich mit Verschwörungstheorien verbinden, die als Welterklärungsmodelle dienen,
  • mit Wahrheitsansprüchen einhergehen, die jede Kritik abweisen und Selbstreflexion verhindern,
  • auf Chauvinismen basieren,
  • den Machtanspruch von Vertreter*innen der Mehrheitsgesellschaft gegenüber marginalisierten Gruppen widerspiegeln,
  • dazu führen, dass beständig Rücksichtnahme auf eigene Bedürfnisse einklagt werden, jedoch keine Bereitschaft existiert, »Anderen« ihre Bedürfnisse zuzugestehen,
  • sich mit weiteren Bezugspunkten rechter Lebenswelten(insbesondere der männlichen Kampfgemeinschaft) verbinden.

Sich zu Opfern von Verfolgung, Unterdrückung, Treibjagden und Zensur zu erklären, zielt auch hier darauf, das Gesagte, Geschriebene und Gesungene aufzuwerten. Wie groß müssen Heldenmut und Opferbereitschaft derer sein, die es wagen, angebliche Tabus zu brechen und »unbequeme Wahrheiten« auszusprechen, wenn sich»Gutmenschen« und Medien zum»Ring von Feinden« formieren und ihr größtes Geschütz auffahren, die Zensur? Bei Bands wie Frei.Wild ist dieser Opfermythos ein reines Fantasiegebäude, denn die Banderreicht Top-Platzierungen in den Musikcharts.

Blaupausen von den Böhsen Onkelz

Was die Band Böhse Onkelz trotz ernst gemeinter Distanzierungen von rechts als Bindeglied auch zur extremen Rechten funktionieren lässt, ist die Tatsache, dass die Band die Kombination von Größen- und Verfolgungswahn zu ihrem Markenkern gemacht hat. Der Böhse-Onkelz-Slogan »Gehasst, Verdammt, Vergöttert« kleidet Tausende von Deutschrock-Fans. Die Fans der Böhsen Onkelz sind in großer Mehrzahl weiße, deutsche Männer, der Jugend entwachsen und mit bürgerlicher Lebensrealität. Sie inszenieren sich als »Underdogs«. Sie teilen die Überzeugung, »die härteste Firma in der Stadt besser« und »besser als der Rest« zu sein (»Die Firma«, 2002) und gerade deswegen abgelehnt zu werden.

In ihrem populären Lied »Das Geheimnis meiner Kraft« (1998) singen die Böhsen Onkelz:

»Ich will keine Gnade und ich gebe keine. Ich bin brennendes Benzin, ein Ritt auf Messers Schneide. Du hast mir gerade noch gefehlt, ich kann Dich sowieso nicht leiden. Nasch ab und gesell dich zu meinen Feinden.[...] Dieses Lied macht nicht beliebt, drauf geschissen, ja was soll’s. Ich will, dass ihr mich hasst, denn eure Feindschaft macht mich stolz. [...] Ich bin im Krieg mit Gott und der Welt, das macht mich nicht beliebt und bringt kein Geld. Doch ich erhebe mich, um mich der Welt zu zeigen. Ich durchbreche alle Mauern und alles Schweigen.«

Typisch ist die Verknüpfung von Größen- und Verfolgungswahn mit rebellischer Attitüde und purer Unwahrheit (»bringt kein Geld«). Das Textzitat »Ich will, dass ihr mich hasst, denn eure Feindschaft macht mich stolz« ist ein Leitspruch, der verschiedene Spektren verbindet – er findet sich in den Social- Network-Profilen von Deutschrock- Fans, Fußball-Hooligans, Rockern und extremen Rechten gleichermaßen häufig als Lebensmotto.

Gehasst2003Bilder von 2003 und 2014. Der Slogan »Gehasst, Verdammt, Vergöttert« kleidet Generationen von Deutschrock-Fans. Fotos: Attenzione (oben), Peter Jülich (unten)

 

GehasstSchal

Der Böhse-Onkelz-Spruch »Gehasst, ­Verdammt, Vergöttert« in leichter Abwandlung (»Verdammt, Verhasst, Vergöttert«) mit dem Zusatz »Deutschland ich steh zu dir« auf einem Schal, den zwei Neonazis 2004 in Duisburg hochhalten. Foto: R. Geisheimer. Attenzione

 

Verschwörungstheorien

Verschwörungstheorien erwachsen vielfach als Konsequenz des Persönlichkeitskonzeptes. An persönlichen Krisen, unbefriedigenden Zuständen und nicht erreichten Zielen sind immer andere schuld. Eine rationale Abwägung der Fakten und der eigenen Verantwortung findet kaum statt. Es bildet sich statt dessen die Überzeugung, dass sich gegen die eigene Meinung und die eigene Person ein»Ring von Feinden« verschworen habe. Dies bildet die Grundlage für Verschwörungstheorien. Verschwörungstheorien inszenieren ein Macht-Ohnmacht-Verhältnis, in dem die eigene Person oder Gruppe gleichermaßen als Verfolgte und als Verkünder*in der Wahrheit vorkommt. Sie erzeugen häufig die Selbstbilder der »Wahrheits«-Rebell*innen und kennzeichnen eine Weltsicht, die ausschließlich nach Bestätigung sucht und keine offenen Diskussionen zulässt. Daraus erwächst eine geschlossene Argumentation, in der nichts in Frage gestellt werden kann. Je stärker sich die Meinungen der Protagonist*innen verfestigen, je stärker diese Bestätigung in einschlägigen Netzwerken finden, desto mehr entziehen sie sich der Diskussionsfähigkeit, desto weniger rationale Zugänge gibt es zu ihnen.

Quellen der Informationsgewinnung werden strikt selektiert, die ausgesuchten Aussagen oder Dokumente werden nicht angezweifelt und dienen als Belege der Wahrheit. Menschen, die widersprechen, gelten als»Nichtwissende« oder bereits als unmittelbare Träger*innen der Verschwörung. In einem verabsolutierten Freund-Feind-Dualismus wird »der Feind« oft als monolithischer Block gedacht: Medien, »Gutmenschen«, Politiker*innen, »die Antifa« – alle sind Teil eines Komplotts und erfüllen in diesem lediglich unterschiedliche Aufgaben. Egal, wie gut diese ihre Kritik mit Fakten unterlegen, sie liefern nur weitere Indizien dafür, wie sehr die »Mächtigen« in der Lage seien, Meinungen zu manipulieren.

Beispiel: die »9/11-Verschwörung«

Auf die Frage »Habt ihr dat vielleicht selbst gemacht?« in dem Song »Selbst gemacht« (2007) des deutschen Hip-Hop-Duos Die Bandbreite gibt die Band gleich selbst die Antwort. Zentral im Liedtext steht die Behauptung, dass amerikanische Behörden die Anschläge vom 11. September 2001 selbst durchgeführt und ihre Tatbeteiligung vertuscht hätten. Dazu zählt Die Bandbreite angebliche Fakten auf, die von verschiedenen Verschwörungstheoretiker*innen zusammengetragen wurden,  der II. Weltkrieg, Vietnam-Krieg, Golfkrieg und der 9. September ergeben zusammen ein scheinbar schlüssiges Bild, wonach die US- amerikanische Politik für ökonomische Interessen die »eigenen Leute« töten und opfern würde:

»[...] Ich denke dann an den Golf von Tonkin in Vietnam, damals habt ihr behauptet, man griffe euch an. Ein anderes Unterfangen, dat war ziemlich makaber, eigene Leute geopfert im Massaker von Pearl Harbor. Ja, die bösen Japaner, die euch nur dabei halfen, endlich mit in den zweiten Weltkrieg einzugreifen. Sehr ergreifend auch, dat damals irakischen Soldaten in Krankenhäusern Babys aus den Brutkästen traten. Es war ’n Fake, ’ne Fälschung, ein PR-Gag von euch, doch hat dat für den Eintritt in den Golfkrieg gereicht. Und da macht ihr’s mir leicht, mit dem 11. September, denn an eurem Verhalten hat sich gar nix geändert. [...] Habt ihr dat vielleicht selbst gemacht? Den Terror selber in die Welt gebracht? [...] Ja, da war im Pentagon dieses Fünf-Meter-Loch, in dat sich angeblich eine Boeing verkroch. Auf die Frage, wo sind doch die Turbinen verblieben, war die Antwort, der Aufschlag tät sie pulverisieren. Doch wie eruiert man aus dem Pulver, dem gleichen, einwandfrei Identitäten von über 100 Leichen? Warum zeigen sich keine Wrackteile auf dem Rasen? Warum verbirgt dat FBI , wat die Kameras sahen? [...] Ja, ihr steht aufm Schlauch, denn ihr braucht auch so viel, also geht ihr und saugt aus dem Boden dat Öl. Ja, man kann ihn verstehen, euren drastischen Plan, denn am kaspischen Meer liegt noch mehr von dem Kram. [...] Doch so fangt ihr ihn an den gerechten Krieg, weil ihr euch so die Wahrheit zum Rechten biegt. Und ihr wiegt euch in Sicherheit bis einer fragt: Habt ihr dat vielleicht selbst gemacht?«

Übergänge von links nach rechts

Die Bandbreite verortet sich selbst als politisch links, wurde in den vergangenen Jahren jedoch von linken Gruppen zunehmend gemieden und ging in einer von Rechten dominierten »Wahrheitsbewegung« auf. Dennoch ist sie noch heute in der Linken nicht völlig isoliert. Verschwörungstheorien bilden, insbesondere wenn sie anti-amerikanisch ausgerichtet sind, eine Schnittmenge zwischen sich links und rechts verstehenden Kreisen. Antiamerikanismus verbindet sich hierbei häufig mit Antisemitismus oder ist manchmal nur dessen Chiffrierung. Der deutsche Rapper Makss Damage verstand sich bis 2010 als links. Aufgrund seines Bekenntnisses zum Stalinismus sowie sexistischer und antisemitischer Liedtexte war er in der Linken jedoch stark umstritten. Im August 2009 sollte er auf Einladung antifaschistischer Gruppen im Berlin auftreten und wurde erst nach Intervention anderer antifaschistischer Gruppen ausgeladen. Ebenfalls 2009 veröffentlichte er den Song »Komintern Flavour« 2 , der im Rap nicht unüblich Schlagworte und Satzfetzen aneinanderreiht. Neben der Behauptung des »abgesprochenen« Terrors vom 11. September 2001 finden sich in diesem Liedtext Passagen, die sich nur rassistisch und antisemitisch deuten lassen: » WTC, TNT, CIA abgesprochen, Türme weg, Kriegsgrund Ölquellen, Waffenlobby, Georg Bush, Affenmensch [...] Israel Terrorstaat, Intifada, solange bis die ganze Welt es sagt!« Verbittert über die fehlende Anerkennung in der politischen Linken wendete sich Makss Damage der extremen Rechten zu. Seit 2011 bekennt er sich zur »Nationalen Bewegung« und tritt als Vertreter des NS-Hiphop offen neonazistisch auf.

1 Kurt Lenk, Ideengeschichtliche Dimensionen rechtsextremen Denkens, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Bd.
2 Komintern steht für »Kommunistische Internationale«

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